China: Sand im Getriebe des Wachstumsmotors

Chancen - Magazin für Finanzmärkte und Konjunktur

Seit über 30 Jahren wird China mit hohen Wachstumsraten verwöhnt. Trotzdem konnte das Reich der Mitte die Lücke zu den Industrienationen nicht schliessen. Strukturelle Unterschiede und diverse Stolpersteine könnten dazu führen, dass die Aufholjagd Chinas länger dauert. Innerchinesische Herausforderungen und die veränderte Wahrnehmung Chinas seitens westlicher Staaten, sprich das sogenannte De-Risking, können den Aufholprozess verlangsamen.
Am 12.12.2023 in N° 2/2023 von Brigitta Lehr, Finanzanalystin, Dr. Rolf Wetzer, Finanzanalyst, und Nicolas Hefti, Portfoliomanager
Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas ist atemberaubend: 1990 lag das Land mit einem Anteil von 1.6 % an der globalen Wirtschaftsleistung auf Rang elf, inzwischen konnte es seinen Anteil auf 18 % mehr als verzehnfachen. Es rangiert heute hinter den USA an zweiter Stelle. China übernahm zunehmend die Rolle der Konjunkturlokomotive für das globale Wirtschaftswachstum. In den vergangenen 15 Jahren entfiel meist über ein Drittel des jährlichen realen Zuwachses der weltweiten Wirtschaftsleistung auf das Reich der  Mitte.

Noch nicht in der Liga der Industrienationen angekommen

Trotz dieser rasanten Entwicklung weist die chinesische Wirtschaft nach wie vor deutliche strukturelle Unterschiede zu den USA und zu anderen wichtigen Industrienationen auf: Der Wertschöpfungsanteil des Dienstleistungssektors liegt mit 53 % deutlich unter seinem US-amerikanischen Pendant. Gleichzeitig haben der Industrie- und der Agrarsektor ein höheres Gewicht, als dies in entwickelten Volkswirtschaften üblich ist. Der Anteil der chinesischen Stadtbevölkerung ist von 18 % in den 1970er-Jahren auf zuletzt 64 % gestiegen. Diese Quote liegt unter derjenigen der USA (83 %) und der von anderen Industrienationen. Chinas BIP pro Kopf von USD 12 720 im Jahr 2022 (nominal, Weltbank) entspricht etwa dem globalen Durchschnitt, liegt aber deutlich unter demjenigen der USA von USD 76 399.

Die Sparneigung der chinesischen Bevölkerung ist aussergewöhnlich. Sie betrug zuletzt sehr hohe 35 % und spiegelt sich in einer geringen Konsum- und einer entsprechend hohen Investitionsquote wider. Weniger als 40 % des chinesischen BIP werden für den privaten Konsum verwendet – im Vergleich zu fast 70 % in den USA. Gleichzeitig liegt der Anteil der Investitionen in China mit über 40 % doppelt so hoch. Speziell die hohe Investitionsquote dürfte auf die Dauer nicht haltbar sein. So sind die Investitionen bereits heute offensichtlich wenig rentabel – seien es überdimensionierte Immobilienanlagen (siehe separate Box) oder Projekte der neuen Seidenstrasse. Erklärtes Ziel der chinesischen Regierung ist es daher, den privaten Konsum zu beleben, um zu den Industrienationen aufzuschliessen.

Innerchinesische Stolpersteine für die weitere Entwicklung

Eine zentrale Herausforderung für das chinesische Wachstum ist die abnehmende und alternde Bevölkerung. Dazu kommt, dass immer noch viel mehr Jungen als Mädchen geboren werden (zuletzt 111.8 : 100). Der Anteil der Bevölkerung im Erwerbsalter (20- bis 64-Jährige) wird voraussichtlich von derzeit 64 % bis 2050 auf 55 % und bis 2100 gar auf 46 % sinken. Diese Prognosen liegen unter denjenigen für die USA. China ist im Gegensatz zu den USA kein Einwanderungsland. Der Wanderungssaldo ist seit Jahrzehnten negativ. Trotz der alternden Bevölkerung betrug die Jugendarbeitslosigkeit Mitte 2023 über 20 %, was die Produktivität bremsen kann. 

Viele Anekdoten weisen darauf hin, dass eine Diversifizierung weg von China im Gange ist.

Neben den demografischen Faktoren bergen auch wirtschaftliche und soziale Divergenzen Sprengkraft. Gebiete ethnischer Minderheiten mit geringer kultureller Integration wie die der Uiguren und Tibeter hinken dem nationalen Entwicklungsstand hinterher. Proteste werden unterdrückt, staatliche Sicherheit und Kontrolle erscheinen wichtiger als wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand.

Veränderte Wahrnehmung Chinas seitens westlicher Staaten

Angesichts der zunehmenden handels- und geopolitischen Spannungen zwischen China und den USA nehmen auch die übrigen westlich orientierten Länder ihre starke aussenwirtschaftliche Verflechtung mit dem Reich der Mitte mittlerweile als Risikofaktor wahr. Darum überprüfen besonders die Unternehmen diverser westlicher Industrienationen die Stabilität ihrer Lieferketten.

Viele Anekdoten weisen darauf hin, dass eine Diversifizierung weg von China im Gange ist. Erhebungen zeigen, dass der Wille zu neuen Investitionen in China nachlässt. Immer mehr Unternehmen aus der EU, Grossbritannien, den USA und Japan planen, in den kommenden Jahren nicht mehr in China zu investieren. Die jüngste Entwicklung der Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen (FDI) in China befeuert diese These. Gemäss den Zahlen der staatlichen chinesischen Devisenbehörde beliefen sich die FDIs im zweiten Quartal 2023 auf insgesamt USD 4.9 Mia. Dies entspricht einem signifikanten Rückgang um 87 % gegenüber dem Vorjahr und der stärksten Abnahme seit einem Vierteljahrhundert.

Besonders forsch schreitet Dell voran. Der weltweit drittgrösste Computerhersteller will bis 2024 keine in China produzierten Chips mehr verwenden. Zudem hat der Konzern seine Zulieferer darüber informiert,inskünftig auf Komponenten verzichten zu wollen, die mehrheitlich in China hergestellt werden. Es überrascht nicht, dass die Auswirkungen in geopolitisch sensiblen Sektoren am spürbarsten sind. So sind die jährlichen Investitionen US-amerikanischer Unternehmen in den Informations- und Kommunikationstechnologiesektor (IKT) in China von über USD 4 Mia. im Jahr 2016 auf knapp über USD 2 Mia. im Jahr 2019 und auf einige Hundert Millionen USD im Jahr 2020 gesunken. Im Halbleitersektor sank der Anteil Chinas an den weltweiten ausländischen Direktinvestitionen von 48 % im Jahr 2018 auf 1 % im Jahr 2022. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der USA von 0 % auf 37 % und der gemeinsame Anteil von Indien, Singapur und Malaysia von 10 % auf 38 %.

Nachdem sich China jahrelang und speziell seit dem Beitritt zur WTO im Jahr 2001 zur Werkbank der Welt entwickelt hat, zeichnet sich nun eine Gegenbewegung ab. Gemäss verschiedenen Fachleuten ist eine Diversifikation weg von China aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung allerdings nicht einfach. Es geht dabei statt um kurz- und mittelfristige Veränderungen eher um langfristig sichtbare Verschiebungen. Dies widerspiegelt auch das veränderte Narrativ: Wurde in den westlichen Ländern zuerst von «Decoupling » gesprochen, ist unterdessen von «De-Risking», d.h. von einer Diversifikation, die Rede.

Bild: Geisterstädte in China. Bereits 2017 betrug der Bestand an leer stehenden Wohneinheiten bis zu 65 Millionen.

Immobilienmarkt China: zwischen Geisterstädten und Mondpreisen

Immobilienmarkt China: zwischen Geisterstädten und Mondpreisen

In China gibt es derzeit 125 Grossstädte mit mehr als einer Million Einwohnern. Die bekanntesten und grössten sind Schanghai, Beijing, Shenzhen, Guangzhou, Chengdu, Tianjin oder Wuhan. Weit weniger bekannt sind Millionenstädte wie Qingdao, Shantou oder Jining, obwohl sie grösser sind als manche europäische Metropolen. Ihr Markenzeichen ist vor allem eine Armada aus Wolkenkratzern. Entstanden sind diese auch als Zeichen von Wohlstand. Doch die Fassade bröckelt, im wahrsten Sinne des Wortes. Aufgrund falscher Anreize und Planungen gibt es heute in China zahlreiche kaum bewohnte Geisterstädte. Bereits 2017 standen 65 Millionen Wohneinheiten leer.

Starke Nachfrage führte zu Preisexplosionen

Seit die chinesische Regierung privaten Wohnbesitz erlaubt hat, ist die eigene Immobilie Ausdruck des sozialen Aufstiegs. Gleichzeitig wurden Immobilien zum Spekulationsobjekt. Die Nachfrage, gepaart mit staatlichen Konjunkturprogrammen, führte zu regelrechten Preisexplosionen. So kletterte der Preis für eine 60-Quadratmeter- Wohnung in Beijing von CHF 25 000 zur Jahrtausendwende um das 32-Fache auf heute CHF 800 000. Doch nun ist der Bereich von Neubauten gewaltig ins Stocken geraten. Viele Immobilienentwickler sind pleite oder stark angeschlagen. Sie haben mit unverhältnismässig viel Fremdkapital oft am Bedarf vorbeigebaut. Zwei der grössten Immobilienentwickler (Evergrande und Country Garden) des Landes häuften per Mitte 2023 zusammen einen Schuldenberg von umgerechnet rund CHF 450 Mia. an.

Immobilienblase könnte Chinas Wachstum hemmen


Dieser wuchernden Überschuldung wollten Chinas Behörden einen Riegel vorschieben und erliessen Massnahmen, um die Bilanzen der angeschlagenen Immobilienkonzerne wieder auf eine gesunde Basis zu stellen. In der Folge gerieten nicht nur die Grosskonzerne Evergrande und Country Garden in Zahlungsnot, sondern auch etliche andere, weniger bekannte Immobilienunternehmen gerieten ins Schlingern. Dies ist für China problematisch, denn der Bau- und Immobiliensektor macht dort knapp ein Viertel des gesamten Sozialproduktes aus. Diese Unsicherheit könnte Konsumenten und Unternehmen zurückhaltender machen. Dann wären über ein allgemeines Absinken des Wachstums in China auch negative Folgen für das Wachstum im Rest der Welt denkbar.
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