Deutsches Bundesverfassungsgericht: EZB überschreitet Kompetenzen

Es ist ein wegweisendes und politisch unbequemes Urteil: Das Deutsche Bundesverfassungsgericht beanstandet die milliardenschweren Staatsanleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB). Welche Folgen hat dieser Entscheid? Das tägliche Update von Chief Investment Officer Dr. Sandro Merino.
Am 06.05.2020 in CIO-Kommentar von Dr. Sandro Merino
Das gestrige Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) erkennt in den seit 2015 getätigten Käufen von Staatsanleihen eine Kompetenzüberschreitung der Europäischen Zentralbank. In juristischer Fachsprache wäre dies ein sogenannter Ultra-Vires Akt, das heisst ein Handeln ausserhalb der Gewalten der EZB. Das gestrige Urteil finden juristisch interessierte Leser hier (110 Seiten!).

Eine frühere Rückfrage des Deutschen Bundesverfassungsgericht an den Europäischen Gerichtshofs (EuGH), führte zu einen EuGH Urteil, dass keine Kompetenzüberschreitung erkannte. Das BVerfG kann das Urteil des EuGH nicht nachvollziehen und urteilt, dass die sehr umfangreichen Käufe von Staatsanleihen ab 2015 im Rahmen des PSPP Programms der EZB nicht verfassungskonform waren.

Keine verbotene, direkte Staatsfinanzierung

Das gestrige Urteil der BVerfG hält aber auch fest, dass eine verbotene, direkte Staatsfinanzierung durch die EZB nicht stattgefunden hat. Vereinfacht ausgedrückt ist die Vorstellung, dass die EZB einfach Geld druckt und diese Mittel an einzelne Mitglieder der Eurozone zur Verfügung stellt, auch gemäss dem Urteil des BVerfG nicht zutreffend. Ebenfalls sind die jüngsten Massnahmen der EZB in Zusammenhang mit der Corona-Krise vom Urteil der Karlsruher Richter nicht betroffen.

Im Urteil steht die Frage der Verhältnismässigkeit des Handelns der EZB, welche durch das deutsche Parlament und die Bundesregierung hätte geprüft werden müssen, im Zentrum der Kritik. Das Deutsche Bundesverfassungsgericht kann nicht direkt die EZB auffordern, eine solche Prüfung durchzuführen. Das Urteil des BVerfG erteilt der deutschen Legislative und Exekutive einen verbindlichen Auftrag, die versäumte Prüfung der Verhältnismässigkeit der Interventionen der EZB nun nachzuholen.

Verfolgt die EZB währungspolitische oder wirtschaftspolitische Ziele?

Es muss also abgeklärt werden, inwiefern die EZB durch massive Käufe von Staatsanleihen aus der Eurozone primär währungspolitische Ziele verfolgt oder bereits fiskalpolitische und wirtschaftspolitische Ziele "Utra-Vires" verfolgt. Dabei ist die Frage der Verhältnismässigkeit der eingesetzten EZB Instrumente bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Deutsche Wirtschaft zu beurteilen. Kritiker der Geldpolitik der EZB sehen in der sehr lang anhaltenden Tiefzinsphase und in der Aushebelung von Marktmechanismen zur Bestimmung risikogerechten Zinsniveaus eine massive Umverteilung. Verlier sind dabei Sparer und konservative Anleger in Zinspapiere, beispielsweise Rentenfonds. Gewinner fallender oder tiefer Zinsen waren und sind Immobilieneigentümer und Aktionäre. Auch das wenig verhüllte seltsame "geldpolitische Ziel" der Senkung des Zinsniveaus für italienischen Staatsanleihen wird durch Kritiker in Frage gestellt.

Die Risikoaufschläge für die Zinsen von Staatsanleihen aus Italien oder Spanien haben gestern nur moderat auf das Urteil aus Karlsruhe reagiert. Das alleine zeigt schon,
dass kaum jemand erwartet, dass das Urteil des BVerfG zu einem Ende der Kaufprogramme führen wird. Das Urteil des BVerfG wird voraussichtlich den EZB-Rat beschäftigen, der kein Interesse an einer Eskalation haben dürfte und somit der Deutschen Regierung und dem Deutschen Parlament die notwendigen Argumente zur Beurteilung der Verhältnismässigkeit liefern wird.

Die Auswirkungen des Urteils

Obwohl die unmittelbaren Auswirkungen des Urteils gering bleiben dürften, lässt es dennoch aufhorchen. Zum einen ist das internationale Ansehen des deutschen Verfassungsgerichts sehr hoch und die mangelhafte Verfassungskonformität findet grosse Beachtung bei Kritikern der EZB. Zum anderen ist die Deutsche Bundesverfassung ein hohes Gut, dass höchsten Schutz verdient, auch wenn das gestrige Urteil gerade in der aktuellen Krise politisch sehr unbequem ist. Es wäre ein fataler Fehler, die Bedenken und das Misstrauen vieler Menschen in die explodierende Bilanz der EZB nicht ernst zu nehmen. Das gestrige BVerfG Urteil zwingt die Politik, dieses äusserst komplexe und emotionsgeladene Thema zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt in Angriff zu nehmen.

Den Klägern, welche mit ihren Bedenken zu diesem Urteil geführt haben, kann man keinen Vorwurf machen. Sie haben das getan, was in einer echten Demokratie getan werden muss, nämlich im Rahmen rechtsstaatlicher Möglichkeiten unbequem zu sein, selbst dann, wenn das Thema gerade in diesen schwierigen Zeiten keinem ins Konzept passt.

EZB hält Staatsanleihen von 2,2 Billionen Euro

Die Asymmetrie im Umgang mit der europäischen Schuldenkrise ist nach dem Urteil aus Karlsruhe nicht mehr kleinzureden. Einerseits ist in Deutschland eine gemeinsame europäische Fiskalpolitik, inklusive gemeinsamer Schuldeninstrumente, realpolitisch nicht realisierbar. Diese Debatte findet dabei aber offen und demokratisch im Bundestag statt. Andererseits wurden, offenbar bedingt verfassungskonform, Tatsachen geschaffen: Die EZB hält inzwischen Staatsanleihen im Wert von 2,2 Billionen Euro, was etwa einem Drittel der Staatsverschuldung der Eurozone entspricht. Die Risiken, die Auswirkungen, sowie die Verhältnismässigkeit dieser Tatsache muss jetzt als Folge des gestrigen Urteils durch Regierung und Parlament erstmals begründet werden.

Langfristig wiegt für uns aber etwas schwerer: Das gestrige Urteil des BVerfG signalisiert, dass das bisherige massive Eingreifen der EZB durch die Willensäusserung jedes nationalen Parlamentes der Eurozone grundsätzlich in Frage gestellt werden könnte. Dies kann unabsehbare Folgen haben, falls irgendwann weniger Einigkeit über das faktische Mandat der EZB herrschen sollte als heute.

Entwicklung an den Aktienmärkten


Am heutigen Mittwoch eröffnen die weltweiten Aktienmärkte wenig verändert. Die europäischen Aktienmärkte sind etwa -0.25 % im Minus. Der Schweizer SMI-Index ist aktuell etwa 0.50% im Plus. Für die US-Aktienmärkte wird heute eine positive Eröffnung von ca. +1% erwartet. US-Aktien verlieren seit Jahresanfang je nach Index (Dow Jones / Standard % Poors 500) aktuell etwa 13% bis 17%, europäische Aktien etwa 23%, Schweizer Aktien etwa 10% und chinesische Aktien (CSI 300 Index) etwa 4.% (alle Zahlen per 6.5.2020 ca. 13:15, Basel Zeit, Markbewegungen seit Jahresanfang in CHF bewertet).

Angst ist kein guter Ratgeber

Wir wiederholen an dieser Stelle, dass Angst in diesem Umfeld kein guter Ratgeber ist. Wir haben uns sehr früh mit den Folgen einer Pandemie beschäftigt und können einen entsprechenden Notfallplan jetzt einsetzen. So wurden in den vergangenen Wochen zahlreiche mobile Arbeitsplätze vorbereitet. Alle unserer wichtigen Funktionen in der Vermögensverwaltung sind (mindestens) doppelt besetzt; die Kollegen arbeiten an verschiedenen Bürostandorten oder von zu Hause aus. In den Büros gelten besondere Hygienevorschriften. Geschäftsreisen wurden streng reglementiert, Präsenztermine sind durch Video- und Telefonkonferenzen ersetzt. All das sichert einen reibungslosen Arbeitsablauf – und begrenzt mögliche Infektionsrisiken für die Kolleginnen und Kollegen sowie deren Familien.

Wir raten an Aktienpositionen festzuhalten. Wir werden Sie dabei weiter laufend informieren. Für Fragen stehen wir gerne zur Verfügung.

Dr. Sandro Merino

Chief Investment Officer und Leiter BKB Asset Management

Erfahren Sie aus erster Hand die Einschätzungen unseres Chief Investment Officers, Dr. Sandro Merino, und überprüfen Sie Ihre Anlagestrategie mit Ihrer Kundenberaterin oder Ihrem Kundenberater.

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