Altersvorsorge: «Der Kapitalmarkt kann das heutige Rentenniveau nicht garantieren.»

Es fehlt Geld in der AHV, und auch die zweite Säule wankt. Derzeit wird heftig über eine Rentenreform diskutiert. Heinz Zimmermann, Professor für Finanzmarkttheorie an der Universität Basel und Autor mehrerer Studien zur Altersvorsorge, hat einen konkreten Vorschlag.
Am 31.10.2019 in Rund ums Geld von Prof. Dr. Heinz Zimmermann

In der Schweiz sind etliche Versuche gescheitert, die Altersvorsorge zukunftstauglich zu machen. Was ist der Grund dafür?

Die Langfristigkeit. Wir gestalten heute ein System, das in ferner Zukunft funktionieren muss. Das ist äusserst schwierig – unter anderem angesichts der grossen Ungewissheiten auf den Kapitalmärkten. Wir wissen nicht, in welcher Verfassung die Märkte in 30, 40 Jahren sind. Ob das kapitalgedeckte System in Zukunft funktioniert, hängt entscheiden von den Annahmen ab, die wir heute treffen. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die demografische Entwicklung. Die Geburten- und Sterberate lässt sich berechnen, aber schwieriger ist es bei der Migration.

Macht die Reform AHV 21 unsere Altersvorsorge fit für die Zukunft?

Für die nächsten zehn Jahre dürfte man die AHV damit ins Gleichgewicht bringen. Eine dauerhafte Lösung bringt die Reform aber nicht. Es ist absehbar, dass die AHV-Rente künftig nicht mehr existenzsichernd sein wird wie ursprünglich vorgesehen. Um sie existenzsichernd auszubauen, müssen wir bei der beruflichen Vorsorge (BVG), also der zweiten Säule ansetzen.

Ist es überhaupt möglich, das heutige Rentenniveau zu halten?

Möglich ist es. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Gesellschaft die Kosten tragen will, die damit verbunden sind. Klar ist, dass der Kapitalmarkt das heutige Rentenniveau nicht garantieren kann. Heute merken wir dies wegen der Tiefzinsphase sehr deutlich. Das Problem bestand aber schon vorher: Die Pensionskassen haben schon nach der Einführung des BVG 1985 zu hohe Renten ausgeschüttet. Dazu kommt, dass wir noch nicht einmal wissen, ob das System funktioniert: Die Generation, die Mitte der Achtziger Jahre als erste Beiträge einzahlte, wird erst um 2025 pensioniert. Wie viel Sicherheit kann man dem Rentenempfänger also noch geben? Das ist die Kernfrage der Diskussion zur Rentenreform.

Es zeichnet sich ab, dass das System nicht funktioniert. Hat das Konzept der zweiten Säule versagt?

Das sehe ich nicht so. Eine Nullzinsphase ist keine Absage an das kapitalgedeckte System, nur an den damit verknüpften Sicherheitsanspruch. Aktien, Liegenschaften und andere reale Vermögenswerte bilden die Grundlage eines kapitalgedeckten Systems. Aber die damit erwirtschafteten Erträge sind unsicher. Wird der heutige Sicherheitsanspruch beibehalten, sinken die Renten sicher massiv.

Die Gefahr besteht, dass es eine «Verlierergeneration» geben wird, auf deren Rücken die Schweizer Altersvorsorge saniert wird. Wie kann dies verhindert werden?

Es kann nicht verhindert werden, wenn man Leistungen garantieren will, die über den Möglichkeiten des Kapitalmarktes liegen. Diese Umverteilung findet heute schon in massiver Weise statt, und zwar nicht nur von Aktiven zu Rentnern, sondern auch innerhalb der Aktiven. Eigentlich müssten die 40- bis 50-Jährigen heute bei jeder Zinsgutschrift ein schlechtes Gewissen haben. Denn sie geht auf Kosten der Jüngeren, auch derjenigen, die noch gar nicht arbeiten.

Dagegen lässt sich nichts tun?

Bereits getroffene Massnahmen wie die Herabsetzung des Mindestzinssatzes haben die Umverteilung schon abgeschwächt. Trotzdem bleibt sie bestehen, und damit auch die doppelte Belastung der Jungen. Das ist das eigentlich Unfaire des Systems. Wer im Erwerbsleben steht, muss deshalb mehr sparen.

Heisst das, dass wir bei der Altersvorsorge mehr Selbstverantwortung übernehmen müssen?

Unbedingt. Die entsprechenden Möglichkeiten werden auch für tiefe Einkommen zunehmen. Ebenso klar ist, dass ein minimaler Vorsorgeanspruch in jedes Sozialversicherungssystem gehört. Es stellt sich nur die Frage der Finanzierung und der Höhe.

Wie müsste eine Reform aussehen, die die Renten von morgen wirklich rettet?

Über ein Umlageverfahren wäre es möglich, den Umverteilungseffekt transparenter zu gestalten. Für sozialpolitische Anliegen ist die kapitalgedeckte Vorsorge nicht geeignet. Wir sollten deshalb den Vermögensaufbau konsequent von sozialpolitischen Zielen wie der Sicherung des Existenzminimums trennen. Dazu muss der überobligatorische Teil flexibler werden: Die garantierten Leistungen gehören abgeschafft. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollten die Möglichkeit haben, die Anlagestrategie ihrer Vorsorge mitzubestimmen. 1-e-Pläne mit individuellen Anlagestrategien für gut Verdienende gehen in die richtige Richtung.

Die private Vorsorge der dritten Säule wird angesichts der Lage immer wichtiger. Wie schätzen Sie ihr Potenzial ein?

Sie hat grosses Potenzial. Die dritte Säule wird auch rege genutzt, gerade von Jungen. Generell beobachte ich, dass die Sensibilität für die Altersvorsorge bei Jungen zugenommen hat. Das merke ich zum Beispiel an den Themen, die meine Studierenden für ihre Arbeiten auswählen.

Ab welchem Alter ist es sinnvoll, sich ernsthaft mit der Vorsorge zu beschäftigen?

Finanzmathematisch gesehen so früh wie möglich: Ob ich während 30 oder 40 Jahren CHF 100 pro Jahr einzahle, hat dramatische Auswirkungen auf das Alterskapital. Die psychologische Antwort sieht anders aus. Kürzlich hat mir eine Personalverantwortliche erzählt, dass sich ein 25-jähriger Bewerber beim Vorstellungsgespräch nach den Vorsorgeleistungen erkundigt hat. Das wirkt skurril, obwohl seine Frage mehr als berechtigt ist. Das ist eben die Krux des kapitalgedeckten Systems: Man kann sich länger in Sicherheit wiegen. Beim Umlagesystem merkt man viel schneller, wenn es in Schwierigkeiten gerät.
Zimmermann Heinz

Prof. Dr. Heinz Zimmermann

Professor für Finanzmarkttheorie an der Universität Basel

Prof. Dr. Heinz Zimmermann unterrichtet seit 1988 Finance an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel und seit 1999 in Bern sowie am Swiss Finance Institute. Er wurde in Bern geboren und publizierte diverse Untersuchungen zum Schweizer Vorsorgesystem. Sein Forschungsinteresse umfasst Empirical Asset Pricing, Risikomanagement und Derivate. Seine Forschungsgruppe entwickelt und wendet ökonometrische Modelle an, um Themen von öffentlichem Interesse zu analysieren. Zu seinen fachlichen Interessen zählen vor allem auch die Geschichte von Finanzen und Finanzen als akademische Disziplin. Seit 2005 ist er Ehrenmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Finanzmarktforschung.

heinz.zimmermann@unibas.ch
Es gibt keinen Grund, sich der ungewissen Zukunft der ersten und zweiten Säule auszuliefern. Mit der dritten Säule hat es jeder selbst in der Hand, für sein Alter vorzusorgen: mit einem Säule-3a-Konto oder mit Wertschriftensparen. Finden Sie gemeinsam mit Ihrer Beraterin oder Ihrem Berater die passende Vorsorge-Lösung.

August 2019

Der Wirtschaftsdachverband economiesuisse lehnt die vom Bundesrat beschlossene Zusatzfinanzierung für die AHV ab.

Nebst der Finanzierungsseite (Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,7 Prozentpunkte) müssten auch auf der Leistungsseite gleichwertige Reformen ergriffen werden, z.B. die Erhöhung des Rentenalters für Männer auf 66 Jahre, so die Forderung. Nur so könne die AHV langfristig stabilisiert werden.

Der Bundesrat verabschiedet die Botschaft zur Reform AHV 21.

Die Eckpfeiler: Erhöhung des Rentenalters auf 65 für Frauen, flexibel wählbares Rentenalter von 62 bis 70 Jahren und eine um 0,7% höhere Mehrwertsteuer.

Juli 2019

Der Gewerkschaftsbund, Travail.Suisse und der Arbeitgeberverband stellen ihr Modell für eine Rentenreform vor.

Sie wollen in der beruflichen Vorsorge (BVG) u.a. den Mindestumwandlungssatz auf 6% senken und fordern einen Rentenzuschlag von 0,5%. Dieser soll im Umlagemodus finanziert werden. Zudem möchten die Sozialpartner den Koordinationsabzug halbieren und die Lohnabzüge neu staffeln. Damit erfüllen sie einen Auftrag, den ihnen Bundesrat Alain Berset nach der gescheiterten Abstimmung zur Altersvorsorge 2020 erteilt hat.

Der Gewerbeverband präsentiert für die BVG eine kostengünstigere Alternative:

Er fordert u.a. einen Umwandlungssatz von 6% und will die Altersgutschriften neu festsetzen.

Juni 2019

Die Jungfreisinnigen verabschieden eine Initiative zum Rentenalter 66+

Mai 2019

Das Volk stimmt der Zusatzfinanzierung der AHV zu.

Diese verkleinert die Finanzierungslücke, reicht zur Sanierung der ersten Säule aber nicht aus.

Der Pensionskassenverband ASIP präsentiert sein Modell für eine BVG-Revision:

Umwandlungssatz 5,8%, Sparbeginn ab 20, Rentenalter 65 für Frauen sowie Übergangsmassnahmen.

April 2019

Die Initiative Vorsorge JA – aber fair wird lanciert.

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