Nostalgischer Genusstempel
Die Umgestaltung des Marktplatzes um 1900 machte schliesslich entspanntes Promenieren durch die Innenstadt möglich – das stinkende Gewässer wurde überbaut. Kein Wunder also, liessen sich weitere Genusstempel hier nieder: 1914 eröffnete das Café Spillmann, wenig später das Café Singer. Die Familie Schiesser erweiterte 1915 mit Zunftstube und Tearoom. Im dunklen «Rathstübli» trafen sich fortan die Herren, um zu politisieren und Zigarre zu rauchen. Im hellen Tearoom genossen die Damen ihren Kaffee und ihr Liqueurchen für die gute Laune.
Das alles ist lange her. Unterdessen ist «der Schiesser » in Basel eine Institution. Ein Synonym für Genusskultur. Das Wohnzimmer der süssen Glückseligkeit. Hier bekommst du Kaffee, Pralinés und Kirschstängeli serviert von freundlichen Damen in weissen Schürzchen. Du sitzt an Tischen, auf Stühlen, unter Lampen, die vor hundert Jahren bereits hier standen und hingen – fein säuberlich restauriert natürlich. All das wirkt sympathisch altbacken. Soll es auch. Schliesslich ist die Tradition Teil des Schiesserschen Erfolgs. Ein Erfolg, der gemäss Stephan Schiesser, dem Urenkel von Rudolf, allerdings nur jemandem zu verdanken ist: Rosi, seiner Frau. Fragen wir hingegen sie, so antwortet sie mit leuchtenden Augen: «Ganz klar, unser Geheimnis ist Stephan! Ohne ihn wären wir heute nicht hier.» Die beiden sind verliebt. Ineinander und in ihr Werk.
Hingabe und gelebte Entschleunigung
Und dieses Werk bedeutet Hingabe. Denn am Ende hat der Erfolg vor allem mit einem zu tun: Mit Arbeit. Sieben Tage die Woche sind die beiden vor Ort, erreichbar für alle Wünsche und Fragen. Marketing, Personal, Buchhaltung; Stephan und Rosalba Schiesser machen alles selber. Und es gibt viel zu tun, um den Charmezu bewahren, der aus der Confiserie einen aus der Zeit gefallenen Ort macht. Einen Ort der gelebten Entschleunigung, der Nostalgie. Dabei hat das Unternehmen harte Zeiten erlebt: Spanische Grippe, Weltwirtschaftskrise, Krieg. Gab’s keine Mandeln, so verwendete man Aprikosenkerne zum Backen. «Vermutlich bereiteten die Mandeltörtchen damals dem einen oder anderen Kunden etwas Bauchweh, Aprikosenkerne haben nämlich ziemlich viel Blausäure …», schmunzelt Stephan Schiesser. Der Confiseur hat noch sämtliche handgeschriebenen Rezepte von einst und weiss, was in der Verzweiflung alles verarbeitet wurde.
Aprikosenkerne kommen heute nicht mal mehr in Notsituationen ins Gebäck. Dennoch: «Die aktuellen wirtschaftlichen Umstände stellen uns vor extreme Herausforderungen», meint Rosalba Schiesser. Und das alles im 150. Jubiläumsjahr. Mist. Aber Aufgeben gibt’s nicht. Tradition verpflichtet und ist Ansporn. «Unser Ziel ist es, das Unternehmen dereinst den Kindern zu übergeben. Die sind zwar erst neun und zwölf Jahre alt, zeigen aber bereits reges Interesse», so Stephan Schiesser. Auch er stand bereits als Bub gerne in der Backstube und übernahm das Erbe seiner Vorfahren mit Freude.
Die Passion für seinen Beruf hat er sich bis heute bewahrt. Ihm und seiner Frau Rosalba, Tochter einer süditalienischen Auswandererfamilie, ist es zu verdanken, dass die Confiserie Schiesser bis heute nachhaltig und mit grosser Sorgfalt geführt wird. Dabei könnte man meinen, das Konfliktpotenzial sei hoch, wenn man tagein, tagaus mit seinem Ehepartner zusammenarbeitet. Nicht so bei Stephan und Rosalba Schiesser. Das Gegenteil scheint der Fall. Als sie von den Anfängen ihrer Liebe und den damit verbundenen Turbulenzen erzählen, müssen sie dermassen lachen, dass die Kaffeetassen auf dem Holztisch im Tearoom leise klirren. Wie war das nochmal mit dem Geheimnis des Erfolges? Standort? Qualität? Nachhaltigkeit? Arbeit? Auch. Aber ohne Liebe funktioniert im Leben nichts.