Wirtschaftliche Verflechtung - Europa hat weiteres Potenzial

Mit der Schaffung des EU-Binnenmarkts vor knapp 30 Jahren hat der europäische Integrationsprozess, der nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sicherung von Frieden, Stabilität und Wohlstand in Europa angestossen wurde, einen Schub erfahren. Der gemeinsame Markt basiert auf den vier Grundprinzipien des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Zusammen mit dem Abbau nicht tarifärer Handelshemmnisse – etwa der Harmonisierung und der gegenseitigen Anerkennung technischer Standards oder dem Wegfall physischer Grenzkontrollen – tragen die Massnahmen zur Erhöhung des Wettbewerbs und zu einer Steigerung von Wohlstand, Produktivität und Innovation bei.
Am 29.08.2021 in N° 2/2021 von Brigitta Lehr

Die wirtschaftliche Verflechtung der EU-Staaten sowie assoziierter Länder ist bereits weit vorangeschritten. Dies zeigen Indikatoren, die die Ausprägung der vier Säulen des Binnenmarkts abbilden.  Dabei wird das gesamte Interaktions-volumen mit dem Ausland der Wirtschaftsleistung bzw. der Bevölkerung der Länder gegenübergestellt und der auf die EU entfallende Anteil gemessen (Abb. 4A bis 4D). 

Internationale Verflechtung mit deutlichen Unterschieden, aber hoher Stellenwert Europas 

Unsere Datenanalyse (Jahr 2019, EU-28-Block inkl. Grossbritannien) zeigt in den vier Kategorien bezüglich der allgemeinen Verflechtung mit dem Ausland teils deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Volkswirtschaften. Der auf die EU entfallende Anteil liegt beim Waren- und Dienstleistungshandel sowie bei den ausländischen Direktinvestitionen jedoch fast immer über 50 % und manifestiert den hohen Stellenwert des Binnenmarkts. Dagegen gibt es bei der Personen-freizügigkeit in den Ländern teils deutliche Unterschiede.

Die Niederlassung von EU-Bürgern ist besonders in den  EU-Mitgliedsländern Osteuropas meist noch wenig ausgeprägt. Dies zeigt der Blick auf Abbildung 4A. So hat bspw. Polen per se einen sehr geringen Anteil ausländischer Einwohner (Wert auf der X-Achse: 0,8 %), wovon nur 11 % auf Personen aus der EU entfallen (Wert auf der Y-Achse). Dies ist u.a. durch das Einkommensgefälle und den daraus resultierendenSog nach Westen zu erklären. Im Gegensatz dazu verzeichnet Grossbritannien im Bereich der Personenfreizügigkeit einen überdurchschnittlich hohen EU-Anteil (Wert auf Y-Achse: 60 %). Trotz einer absolut hohen Verflechtung der Briten mit der EU fällt aber die Integration im Handelsund Kapitalbereich, relativ zu den anderen Ländern, geringer aus. Daher dürften die Kosten des Brexits für Grossbritannien vergleichsweise etwas niedriger sein, als dies bei anderen Ländern bei einem EU-Austritt zu erwarten wäre. 

Bei den Kapitalverflechtungen fallen die vier mit steuerlicher und regulatorischer Magnetwirkung ausgestatteten Länder  Luxemburg, Malta, Irland und Zypern ins Auge. Deren Finanzindustrieschlägt sich auch in einem überdurchschnittlich hohen Dienstleistungsvolumen nieder. Dagegen offenbarendie geringen ausländischen Kapitalverflechtungen der meisten osteuropäischen Länder Entwicklungspotenzial für die dortigen Kapitalmärkte. 

Star des Binnenmarkts ist der Warenverkehr. Das Handelsvolumen der Teilnehmerländer im Verhältnis zum BIP liegt mit durchschnittlich knapp 70 % weit über dem Wertschöpfungsanteil, den Industrie- und Agrarsektor auf sich vereinen. Der hohe Anteil der EU-Partnerländer am Warenhandel spricht für die enorme Attraktivität und das gute Funktionieren des Binnenmarkts. 

Dagegen bleibt die Integration im Dienstleistungshandel – mit Ausnahme der Länder mit einem dominierenden Finanzdienstleistungssektor – bislang hinter ihren Möglichkeiten. Dabei liefert der Sektor mit durchschnittlich mehr als 70 % einen überragenden Beitrag zur gesamten Wertschöpfung. Der Dienst-leistungshandel erreicht meist nur einen Anteil von 30 % am gesamten Handelsvolumen. Physische Präsenzerfordernis und Sprachbarrieren setzen ihm in bestimmten Bereichen Grenzen. Dennoch besteht ausgehend vom heutigen  Niveau beachtliches Integrations- und Wachstumspotenzial. So werden Rechts- und Steuerberatung, Ingenieur oder Architektur- dienstleistungen aufgrund lokaler Besonderheiten selten grenzüberschreitend erbracht, wohingegen andere Bereiche wie Managementberatung, Forschung und Entwicklung, Werbung und Marktresearch kaum Einschränkungen erfahren. 

Der Dienstleistungshandel ist bislang hinter seinen Möglichkeiten geblieben. Stärkere Integration würde Wettbewerb und Wohlstand fördern.

Aufgrund der fragmentierten europäischen Dienstleistungsmärkte und der daraus resultierenden geringeren Wettbewerbsintensität war das Produktivitätswachstum im Dienstleistungsbereich in Europa in den letzten 20 Jahren etwa nur halb so hoch wie das der USA. Keines der Unternehmen, die in der jüngeren Vergangenheit zu globalen Top-Playern am Aktienmarkt aufgestiegen sind, stammt aus Europa: Apple, Microsoft, Amazon, Facebook, Google, Taiwan Semiconductor, Tesla, Tencent oder Alibaba – allesamt haben sie einen grossen Technologiebezug und Europa hier ein offensichtliches Defizit. 

Europa steht vor grossen Herausforderungen, wenn es in der Welt eine führende Rolle spielen will

Der demografische Wandel, das wirtschaftliche Erstarken und die zunehmende Innovationskraft anderer Regionen, insbesondere Chinas, haben längst einen Bedeutungsverlust eingeleitet. Bereits jetzt gehören nur noch drei der vier europäischen Länder unter den G7-Staaten gemäss ihrer Wirtschaftskraft zum Club der sieben wichtigsten Nationen. Eine Stärkung des wirtschaftlichen und politischen Gewichts der EU kann jedoch nur durch weitere Integration gelingen. 

Eine tiefere Integration erfordert eine weitere Abgabe nationaler Kompetenzen und den Verzicht auf lokale Besonderheiten – wie gerade im Dienstleistungs-sektor. Dieser Integrationsprozess ist ein schwieriges Unterfangen, dessen Bürden mit der Anzahl der Beteiligten und deren Partikularinteressen zunehmen. Das zeigt sich auch am Dilemma der Schweiz, die dem Verlangen der EU nach einem Rahmenabkommen zur Erweiterung des bestehenden komplexen, rigiden und fragmentierten bilateralen Vertragswerks eine Absage erteilt hat. Die EU unterhält diverse Beziehungen zu Drittstaaten, die von Freihandels- über Zollunionsabkommen bis zu einer Einbindung in den gemeinsamen Markt variieren. Ziel der EU ist es, diese Beziehungen so zu gestalten, dass die Fähigkeit  zur Anpassung an sich ändernde Gegebenheiten gewährleistet ist. Daneben sollen unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten aufgrund komplexer Rahmenbedin- gungen durch Schiedsregelungen vermieden sowie ein ausgeglichenes Verhältnis von Rechten und Pflichten beim Zugang zum Binnenmarkt gesichert werden. Dies ist auch im Innenverhältnis der EU von grosser Bedeutung. 

Der Handlungsdruck und die Kompromiss-bereitschaft nehmen leider meist erst in Notlagen oder auf Druck von aussen zu. Hoffnung dürfte der EU geben, dass auch der Integrationsprozess der Schweiz hin zu einem Bundesstaat  beschwerlich, aber letztlich erfolgreich war. Militärische Auseinandersetzungen wie der Sonderbundskrieg im Vorfeld der Einigung zur Schweizerischen Bundesverfassung 1848 bleiben uns auf dem Weg in ein stärker integriertes  Europa hoffentlich erspart.

Abb. 4A bis 4D: Die Ausprägung der vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts

Generelle Offenheit der Volkswirtschaften gegenüber dem Ausland (X-Achse) und EU-Anteil (Y-Achse)

ISO-Ländercodes und EU-Beitrittsjahr: AUT Österreich (1995), BEL Belgien (1958), BGR Bulgarien (2007), CHE Schweiz, CYP Zypern (2004), CZE Tschechien (2004), DEU Deutschland (1958), DNK Dänemark (1973), ESP Spanien (1986), EST Estland (2004), FIN Finnland (1995), FRA Frankreich (1958), GBR Vereinigtes Königreich (1973), GRC Griechenland (1981), HRV Kroatien (2013), HUN Ungarn (2004), IRL Irland (1973), ISL Island, ITA Italien (1958), LTU Litauen (2004), LUX Luxemburg (1958), LVA Lettland (2004), MLT Malta (2004), NLD Niederlande (1958), NOR Norwegen, POL-Polen (2004), PRT Portugal (1986), ROU Rumänien (2007), SVK Slowakei (2004), SVN Slowenien (2004), SWE Schweden (1995) 

Quelle: BKB / Eurostat 2019 oder zuletzt verfügbar; Warenhandel Norwegen: WITS 2018; Dienstleistungshandel Schweiz: OECD 2018

Brigitta Lehr

Senior Economist

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