Der Traum vom selbstständigen Wohnen: Die Wohnschule der Stiftung Mosaik

«Die Vorstellung alleine zu wohnen ist für unsere WohnschülerInnen das Allergrösste.»

Sozialpädagogin Jeannette-Maria Merki (60) weiss: Was die einen als 'normal' ansehen, für das müssen andere hart kämpfen. So ist es auch mit dem eigenständigen Wohnen – dem grössten Traum der WohnschülerInnen der Stiftung Mosaik.
Am 29.11.2020 in Von Basel. Für Basel. von Ekaterina Cámara
Jeannette-Maria Merki (60) liebt ihren Job. «Anderenfalls könnte ich das gar nicht seit 30 Jahren machen», sagt die sympathische 60-Jährige. «Unsere Schülerinnen und Schüler leben meistens zwei Jahre lang bei uns. Ich lebe währenddessen mit ihnen ihr Leben mit – in guten und in schlechten Zeiten. Und es ist von beidem immer etwas mit dabei.», lacht sie.

Die Wohnschule macht wohnfit: Eigenständig leben lernen

Die Wohnschule der Stiftung Mosaik an der Gundeldingerstrasse hat eine ganz besondere Aufgabe in unserer Gesellschaft: Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen (Lernbehinderungen, Down-Syndrom, u.a.) die davon träumen, ein selbstständigeres Leben zu führen, können hier über zwei Jahre genau das lernen – das eigenständige Wohnen in einer eigenen Wohnung. Hierzu gehören Dinge wie aufräumen, kochen, putzen, den Müll rausbringen, einkaufen gehen, die eigenen Finanzen im Griff behalten und alles weitere, was sonst noch so anfällt: Das alles und noch viel mehr wird in der Wohnschule gemeinsam mit anderen WohnschülerInnen und den Mitarbeitenden trainiert.

Auf der Spur nach dem eigenen «Ich»

Die Bereichsleiterin und ihre Kolleginnen und Kollegen begleiten auf diesem Weg: «Jeder lernt unterschiedlich schnell. Für ein und dieselbe Sache brauchen die einen ein paar Wochen, bis Routine reinkommt, andere mehrere Monate.»

Der erste Ausbildungsteil ist themenzentriert. «Im Unterricht erfahren unsere Schülerinnen und Schüler in ihrem persönlichen Tempo alles über Aspekte der Identität, Dinge rund um Gesundheit, Ernährung und Wohlbefinden, Freizeitgestaltung, Liebe und Sexualität, u.v.m. Auch erörtern wir gemeinsam, was jeder von ihnen persönlich im Leben erreichen will und wie er oder sie das am besten angehen könnte.» Es wird viel diskutiert, analysiert, gegrübelt und gelacht. Der zweite Unterrichtsteil sind die praktischen und alltäglichen Dinge, wie z.B. kochen und Gäste empfangen, einkaufen, putzen, administrative Arbeiten, Gespräche, usw.

Nachdem der Unterricht beendet ist, nimmt man gemeinsam das Abendessen ein, während welchem man den Tag gemeinsam Revue passieren und ausklingen lässt. Im Anschluss verlassen die Begleitpersonen die Wohnschule – erst ab 12 Uhr Mittags sind sie am nächsten Tag wieder zur Stelle.
Jeder lernt unterschiedlich schnell. Für ein und dieselbe Sache brauchen die einen ein paar Wochen, die anderen mehrere Monate.

Bereit für den Ernst des Lebens


Die Wohngruppe besteht aus 6 WohnschülerInnen, die während zwei Jahren das selbstständige Wohnen üben. Alles von A-Z müssen sie hier selbst erledigen, damit sie nachher für den 'Ernst des Lebens' gewappnet sind. Jeannette-Maria führt aus: «Auch das Wissen, wen man fragen kann, wenn man Hilfe braucht – sei es im Supermarkt, am Bahnhof, oder an sonstigen Orten, kommt einem nicht einfach so zugeflogen – auch das muss man zuerst lernen.»

Herausforderung: Wohnungssuche


Jeannette-Maria hat bereits über 130 Menschen auf ihrer beruflichen Laufbahn begleitet. Ob es ihr immer leicht fiel? «Das Leben gemeinsam mit den WohnschülerInnen zu entdecken erlebe ich als eine riesige Bereicherung und als einen grossen Schatz für mich persönlich. Ich finde es toll, Menschen beim Entdecken Ihres Potenzials begleiten zu dürfen, denn es passiert so viel Interessantes dabei. Das ist aber natürlich nicht immer einfach. Denn du musst auch schwierige Situationen mittragen können.», erklärt sie. «Etwas was ab und zu nicht einfach ist, ist die Wohnungssuche. Die kann sich sehr hinziehen und gestaltet sich immer schwieriger, denn man hat ein gewisses Budget einzuhalten. Viele haben Glück und finden auf Anhieb eine Wohnung, wenn sie soweit sind, dass sie ausziehen können. Bei anderen kann das sehr lange gehen. Das kann den BewohnerInnen stark an die Substanz gehen. In diesen Zeiten brauchen sie besonders viel Unterstützung und Beistand. Dies versuchen wir so gut es geht zu gewährleisten, denn wir gehören ja oft zu den engsten Bezugspersonen.»
Unsere WohnschülerInnen sind ab und zu echte Wundertüten!

Corona & Kontaktbeschränkungen – für die einen eine einsamere Zeit als für andere

Wer die Wohnschule absolviert hat, ist bereit für den Start ins unabhängige Leben. «Viele, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung beispielsweise gar nicht lesen und schreiben konnten, mieten seit Jahren eine eigene Wohnung und wohnen erfolgreich selbstständig.», sagt Jeannette-Maria.

Entwickelt sich die Situation langfristig bei allen so gut? «Meistens schon – in etwa drei Viertel der Fälle. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Es ist mal so, mal so – wie immer im Leben. Aber jetzt zur Corona-Zeit haben es viele unserer Ehemaligen WohnschülerInnen, die selbstständig wohnen, nicht sehr einfach. Manche rufen uns an und möchten über ihre Einsamkeit reden. Einige sind von Natur aus sehr aktiv und hatten sogar in Zeiten des Lockdowns im Frühling ein mehr oder weniger geregeltes soziales Leben – beispielsweise telefonierten sie oft mit Freunden. Wer jedoch eher introvertiert ist und dessen soziales Leben ausschliesslich aus Aktivitäten bestand, die im Lockdown nicht mehr verfügbar waren, der hatte und hat es immer noch schwer. Auch für diejenigen versuchen wir jedoch so gut es geht da zu sein und sie wenn nötig auch an Organisationen zu verweisen, die in Zeiten wie diesen Unterstützung bieten können.»

Wie wird man WohnschülerIn der Stiftung Mosaik?

«Sofern es freie Plätze gibt, ist bei uns jeder willkommen.», erklärt die Bereichsleiterin. Sie fügt an: «Was uns aber wichtig ist: Zu uns kommt niemand, dessen Eltern oder Verwandte es unbedingt möchten. Jeder, der bei uns wohnt, sollte es auch wirklich selbst wollen. Das unterscheidet uns von anderen Einrichtungen und das ist uns sehr wichtig. Denn nur wer etwas selbst wirklich von ganzem Herzen anstrebt, wird darin erfolgreich und noch wichtiger: hat am Ende auch Freude daran.»

Die Wohnschule – eine vergleichsweise neue Alternative für Menschen mit kognitiven Beeiträchtigungen

Früher – vor der Eröffnung der Wohnschule 1990 – gab es so ein Angebot in der Schweiz nicht. «Für Menschen mit kognitiven Problemen gab es meist eigentlich nur drei Optionen: Das Wohnen im Heim, in psychiatrischen Kliniken oder innerhalb den eigenen Familien. Dem wollten wir, unter anderem auch das Zürcher Wohnschul-Beispiel von Pro Infirmis vor Augen, entgegenwirken und ein Training zum eigenständigen Wohnen anbieten.», erklärt Jeannette Maria.

«Für viele ist die Ausbildung sehr gut machbar und sie profitieren anschliessend ihe Leben lang davon.», so die Bereichsleiterin fröhlich. «Zudem sind unsere WohnschülerInnen ab und zu echte Wundertüten! – Sie überraschen uns immer und immer wieder. An viele von ihnen glaubte anfangs niemand – weder Familie, noch Freunde. Doch sie wollten es unbedingt und waren nach einem Jahr bei uns am Ende wie verwandelt. Bis heute führen sie ein erfülltes und unabhängiges Leben. Darüber sind wir sehr glücklich.»

Das lernen die WohnschülerInnen in der Wohnschule:

  • Aufräumen & Wohnung hygienisch sauber halten
  • Einkaufen
  • Kochen
  • Tisch decken
  • Gäste empfangen
  • Smalltalk
  • Sich Hilfe holen können
  • Im theoretischen Block: Alles rund um Gesundheit, Ernährung, Freizeitgestaltung, Liebe, Sexualität, Identität

Die Stiftung Mosaik

Die Stiftung Mosaik führt Angebote zur Beratung, Begleitung und Förderung von Menschen, die in ihren körperlichen, kognitiven, neurologischen, psychischen Funktionen oder in ihrer Sinneswahrnehmung behindert sind. Unter dem Dach der Stiftung Mosaik sind die Angebote der Wohnschule, von AmBeWo (Wohnbegleitung in den Kantonen BS & BL), sowie der Beratungsstelle zusammengefasst.

Die Stiftung Mosaik bietet Menschen mit einer Beeinträchtigung und ihren Angehörigen umfassende Beratung, Begleitung und Information. Sie setzt sich dafür ein, dass Menschen mit einer Behinderung ihr Leben nach ihren persönlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten selbstbestimmt und eigenverantwortlich führen und gleichgestellt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.

Ekaterina Cámara

Redaktion

socialmedia@bkb.ch
Unser E-Newsletter